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"Brundibár" und später mehr
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Brundibár
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Brundibár 2002
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Essay

Die Kinderoper "Brundibár" gehört ins Museum und nicht auf die Bühne

Januar 2002 in der größten und ehrwürdigsten Kirche einer deutschen Großstadt: Eine von Studentinnen der Musikhochschule begleitete Schulklasse führt die aus dem Ghetto Theresienstadt berühmte Kinderoper "Brundibár" auf. Ein anspruchsvolles Rahmenprogramm ist geboten, unter der Schirmherrschaft von Landesbischöfin und Ministerpräsident sind erinnernde und mahnende Reden gehalten worden. Alle Sitzplätze sind von Menschen jeglichen Alters belegt, von allen zu beobachten die Ehrenplätze, die von alten Damen eingenommen werden, die als kleine Mädchen in Theresienstadt, das in Wirklichkeit in KZ und ein Durchgangslager nach Auschwitz war, mitgespielt und überlebt haben. Sie werden wie nach jeder der sechs Aufführungen in eindrucksvoller Weise Rede und Antwort stehen.

Die Hauptlichter verlöschen, und im Dämmerschein kriecht ein beklemmender Zug auf die als Bühne dienende Plattform: an die dreißig Kinder in schmutziggrauen Umhängen, auf die der schreiend gelbe Judenstern geheftet ist. Sie werfen die Umhänge ab, stellen sich im Halbkreis auf, Scheinwerfer tauchen sie in gleißendes Morgenlicht, Musik setzt ein und sie singen: strahlende Kinder in adrett zurechtgemachten Kleidern, wie sie noch in den fünfziger Jahren getragen wurden... - vor allem aber: ganz normale Kinder, die sich freuen, singen und spielen und etwas präsentieren zu dürfen, ganz normale Kinder.

Rührender, ergreifender kann eine Szene nicht sein.

Und dann beginnt eine Handlung, die den mit den Tränen kämpfenden Zuschauer, dem siebzig Jahre jüdisch-deutscher Geschichte in fast nicht erträglicher Verdichtung vor Augen stehen, in ein Wechselbad der Gefühle stürzen. Nicht die angekündigte Geschichte von listigem Widerstand, der in friedlichem Sängerwettstreit kulminiere, läuft vor ihm ab. Die Kinder tun sich zusammen gegen einen Schwachen, der zum fahrenden Volk gehört, sie tun ihm Gewalt an, entwürdigen und vertreiben ihn. Es drängt sich auf, dass dieser Gejagten schon wieder, gewollt oder nicht, der Jude ist: dem sehr deutsch aussehenden Mädchen, das ihn spielt, wurden schwarzer Rock und schwarze Hosen angezogen, ein Zylinderhut aufgesetzt und dicke Brauen sowie ein starker Tagesbart ins Gesicht gemalt. Außer sich, beginnt er Textbuch und historische Hintergründe zu studieren. Beruhigung findet er nicht.

***

Als Schlüsseldaten erweisen sich Ort und Zeit der Entstehung: "Brundibár" ist bereits 1938 in Prag geschrieben worden, also außerhalb jeden Zusammenhangs mit KZ-Kultur und Widerstand. Der Verfasser des Librettos wird ins Exil gehen, der Komponist in Auschwitz ermordet werden - 1938, ein Jahr, bevor sie von den einmarschierten Nazis wegen ihrer Vorfahren zu Juden gestempelt werden, zählen beide noch zur deutschen Minderheit: sie sind auf deutsche Namen getauft (Adolf Hoffmeister, Hans Karl Krása), ihre Muttersprache ist deutsch, sie haben auf deutschen Universitäten studiert und auf Deutsch publiziert. Die Kinderoper entsteht auf Tschechisch, weil sie zu einem staatlichen Wettbewerb eingereicht werden soll. In Prags jüdischem Waisenhaus 1942 in sehr kleinem Kreis heimlich uraufgeführt - Juden durften nicht mehr öffentlich auftreten - gelangt sie nach Theresienstadt, wo solche Beschränkungen wegfallen und sie unvergleichliche Erfolge feiert, zu einem legendären Bestandtteil der Lagerkultur wird, insbesondere den ständig vom Weitertransport nach Auschwitz bedrohten Kindern zu Freude und Ablenkung verhilft, freilich auch von der Lagerleitung für ihre Zwecke eingespannt wird1. Einen Ausschnitt aus dem Schlusschor nehmen die Nazis in den Propagandafilm "Der Führer schenkt den Juden eine Stadt" hinein, auch der bekannten Delegation des Internationalen Roten Kreuzes wird die Oper vorgeführt. All das läßt vom unumgänglichen Textstudium nicht unbedingt die bruchlose Bestätigung liebgewordener Klischees erwarten.

Die Handlung ist schnell erzählt: ein Geschwisterpaar kann die Kaffeemilch für die kranke Mutter nicht kaufen und scheitert bei dem Versuch, das benötigte Geld durch öffentliches Singen zusammenzubekommen, an den nicht interessierten Passanten und dem auf sein Vorrecht pochenden Leiermann, von dem das Stück seinen Namen hat. Es gelingt jedoch einen Chor von dreihundert Schulkindern zusammenzutrommeln, gegen dessen Gesang die Drehorgel nicht ankommt. Das Geld für die Milch kommt zusammen, Brundibár, der sein Recht zu wahren sucht, wird gestellt, vom Hund gebissen, gedemütigt und für immer verjagt. Der Schlusschor preist das in diesem "Krieg" erfahrene Gemeinschaftserlebnis und empfiehlt solches den zuschauenden Kindern zur Nachahmung.

Was sofort ins Auge springt, ist das Missverhältnis zwischen Ursprungskonflikt und Konfliktlösung: Für ein bisschen Milch ein solches Aufgebot, so starke Worte und so viel Dramatik? Tatsächlich ist es so, dass in schroffem Gegensatz zum belanglosen Anlass ein Konflikt aufgebaut wird, wie er grundsätzlicher nicht sein könnte: der zwischen kalter, egoistischer, geld- und vorschriftenorientierter Erwachsenenwelt und der der Kinder, in der Herzensgüte, Spontaneität und Begeisterungsfähigkeit zählen. Wenn Aninka und Pepicek zu Beginn den Milchmann eher rüde um Milch angehen statt höflich zu bitten, wenn sie dem Leiermann naiv und rücksichtslos ins Geschäft pfuschen und den Passanten auf die Nerven gehen, so hat das ebenso Methode wie des Polizisten Belehrungen über die Bedeutung des Geldes oder Brundibárs Verweis auf Manierlichkeit: die Kinder sind noch ungeschliffene, rohe, doch gute Natur, für sie ist die Oper parteilich, während an der Erwachsenenwelt all das ins Unrecht gesetzt wird, was sie zur modernen Gesellschaft macht: Rechtlichkeit, Markt, Professionalität, Konventionen.

Dass es um nicht weniger geht als um einen Kampf gegen diese alte Welt der Erwachsenen und für eine kindgemäßere neue, tritt unverkennbar am Wendepunkt zwischen den beiden Akten der Oper hervor. Es ist Abend, die Kinder haben Niederlage auf Niederlage erlitten und sind ratlos. Da tritt in Gestalt von Spatz, Katze und Hund die Natur selbst auf den Plan und macht klar, dass sie mit den Kindern im Bunde ist. Um "die böse Macht" (tsch. Orig.) ins Wanken zu bringen, gelte es sich mit so vielen Kindern wie möglich zusammenzutun. Der neue Tag beginnt dann musikalisch ebenso stimmungsvoll untermalt wie der Abend: eine neue Zeit bricht an. Entsprechend erwartungsvoll und freudig gestimmt ziehen Kinder und Tiere in den gemeinsamen "Krieg", in dem sehr viel mehr zu gewinnen ist als der kleine Geldbetrag, mit dessen Fehlen alles begann.

Sie machen die Erfahrung, dass man gemeinsam stark ist. Zwar hat ihre sogenannte Freundschaft keinen rechten Inhalt, aber sie hat einen Katalysator: den zum Feind gestempelten Brundibár, gegen den auch die Menge der Schulkinder voreingenommen ist und der als Angehöriger des fahrenden Volkes Außenseiter genug ist, um isoliert und überwältigt werden zu können.

Sie machen eine neue Musikerfahrung. Hatte der Leiermann Nachfrage befriedigt, was ihnen selber misslungen war, so erleben sie jetzt, wie ein "beim Schritt" (tsch., etwa 'im Geichschritt') gesungenes romantisch-volkstümliches Lied Mut verleiht und zusammenschmiedet, aber auch die Erwachsenen auf andere Weise erreicht als die technisch reproduzierte Unterhaltungsmusik: "ergriffen" wenden sie sich vom Leiermann ab, um den Kindern das Geld zu geben, von dem jener nun nicht mehr wird leben können. An die Stelle des musikalischen Marktes mit nachgefragten Konserven ist spontane, aus dem Herzen kommende, die zugehörigen Menschen wieder zur Gemeinsachft verbindende Volkskunst getreten.

Womit eine neue Form von Sozietät aufscheint: eine Kinderwelt, in der man das dringend Benötigte auch unbezahlt bekommt, in der man nicht Profi zu sein braucht, um Geld zu verdienen, wo es auf Disziplin und Manieren so wenig ankommt wie auf Rechtsansprüche - kurz: eine zugleich kindgemäße und volkstümliche "Gemeinschaft" diesseits der modernen "Gesellschaft". Wirklich hergestellt wird diese natürlich nicht: da müsste der Milchmann enteignet, der Polizist verjagt werden usw. Aber ein Vorgefühl von ihr entsteht durch die gemeinsame Eliminierung dessen, der am wenigsten dazugehört, dessen Existenz die fragilste ist, der aber als Überfremder, als Entfremdungsursache kenntlich gemacht wurde: den mit einem kleinen, in moderne Technik gesteckten Kapital arbeitenden, auf Umsatz (noch in kleinsten Beträgen) wie aufs Recht wie auf Wahrung von Anstand und Sitte angewiesenen, professionell und marktbezogen denkenden, nervende Kinder verscheuchenden und Volkskunst blockierenden Leiermann.

Nicht Widerstand ist Inhalt und Botschaft der Kinderoper "Brundibár" (dann ginge es gegen einen wirklich Starken und gegen die wirklichen Machtverhältnisse), sondern Aufstand gegen die Symptome der Moderne, ohne die wirklichen Verhältnisse ändern zu wollen, folglich gegen Stellvertretendes, das sich als Projektionsfläche eignet, ohne doch an der Macht Teil zu haben oder ihren wirksamen Schutz zu genießen, gegen einen, der sich zum Ausgrenzen und zur Verkörperung des Bösen eignet.

Nichts kann bei diesem Befund weniger verwundern, als dass Brundibár "jüdische" Züge trägt. Solche Sicht der Wirklichkeit erzeugt ja genau jene Planstelle für Fremdes und Böses, auf die "der Jude" kraft der historisch-gesellschaftlich erzeugten Klischees genauestens passt - et vice versa: Faschismus, um dieses Weltverständnis beim Namen zu nenenen, entsteht auch dank der bereitliegenden Denkmuster, in denen die Leiden an der Moderne auf "den Juden" als Modernisierungsgewinner und Volksgemeinschaftszerstörer projiziert sind. Die hinter diesen Mustern stehende Wirklichkeit hat nichts mit dem wirklichen Judentum zu tun, sondern ist das Ergebnis der bekannten Geschichte objektiver Ausgrenzung und subjektiver Dämonisierung.

So besehen, ist Brundibár mit seiner sozialen Randständigkeit und Zugehörigkeit zu den Fahrenden, seinem kapitalträchtigen Produktionsmittel, seinem technik- und reklameunterstützten2 Markterfolg, seiner Angewiesenheit auch auf kleinste Einnahmen, auf Polizeischutz und gesittetes Verhalten... ... eine jüdische Existenz.

Denunziert als im Grunde nutzlos3 und unkreativ, geizig und hartherzig, als tyrannischer Monopolist4, als verkappter Krimineller5 und Kinderschreck6, als Feind des Volkstums7 ... ... mit seinem sprechenden Namen, der mehr ein den Menschen und seinen Beruf diffamierender Spottname ist8, trägt er einen großen Teil der Züge, die das judenfeindliche Klischee ausmachen.

Das Schlimmste und Folgenreichste aber ist, dass er von vornherein der Feind der Natur ist, dass die Tiere nur darauf gewartet haben, den Feldzug gegen ihn entfesseln zu können, dass der Hund, kaum erwacht und noch gar nicht recht ins Bild gesetzt, schon Appetit auf sein Fleisch und Blut entwickelt: hinter der kindertümlichen Verbrämung macht es Brundibár zum Objekt dessen, was man aus der zeitgenössischen Wirklichkeit als "eliminatorischen Antisemitismus" kennt.

Folgerichtig ist dann auch sein Schicksal ein jüdisches: was er erleidet, ist in jugendfreier Verniedlichung ein mit Hass-Lust ausgeübter Pogrom, bei dessen Vorbereitung tatsächlich das Bild von Meute und Hetzjagd entwickelt wird9, das Kinder und Tiere als gemeinsames Fest erleben, in das sie mit Begeisterung einsteigen10 und das mit einem entwürdigenden Zur-Strecke-Bringen endet: Brundibár wird vom Hund gebissen und an der Hose umhergezerrt - was, wenn es jüdischen Männern wiederfährt, natürlich besondere Assoziationen auslöst, besonders gefährlich und besonders obszön ist (vgl. hierzu Louis Begley, Lügen in Zeiten des Krieges, S.129 und an weiteren Stellen).

Niemand, auch kein Kind, reagiert auf seinen Hilferuf, vielmehr handelt es sich um die Stelle der Oper, die wie keine andere darauf berechnet ist, das kindliche Publikum zu schallendem Lachen zu bringen. Unwillkürlich assoziiert man Wilhelm Buschs Schmulchen Schievelbeiner ("schöner ist doch unsereiner"):

Dem die Hunde, witziger Weise, die Hose zerreißen: eines der geläufigsten Bilder der Verächtlichmachung des Juden! Wobei es auch in "Plisch und Plum" so ist, dass die Hunde keinerlei konkreten Grund haben, böse zu sein: Ein Jude geht vorbei, das genügt, und die Kinder freuen sich am vorausberechneten Resultat:

In "Brundibár" kommt hinzu, dass der Hund solches mit angekündigter Lust tut, ganz aus sich handelt und mit der Autorität der Natur spricht. 11

***

Am Befund einer inhumanen, faschismusnahen, ja tendenziell antisemitischen Tendenz der Kinderoper lässt sich bei aller Harmlosigkeit der Oberfläche nicht herumdeuteln. Doch wie kann es sein, dass diese Tendenz nicht sofort in die Augen springt,dass sich bis heute, selbst im internationalen Gedenkwesen, wo "Brundibár" ein Hit ist, kein Protest erhebt?

Entscheidend: weil die Titelfigur gar nicht als Jude ausgewiesen wird. Wie immer ihr Name klingt, was er auch bedeutet: er ist weder wirklich jüdisch noch eindeutig spott-jüdisch wie Buschs "Schmulchen Schievelbeiner" (der auch noch pseudo-jiddisch redet, was dem Opernhelden ebenfalls erspart geblieben ist). Ferner: zweifellos mussten gerade in Osteuropa zahllose Juden am untersten Rande der Gesellschaft leben, sich als Straßenmusiker durchschlagen, sie trugen den schwarzen Rock und den schwarzen Hut. Der klassische Drehorgelspieler ist aber Italiener, der samt abgerichteten Affen durch die Lande zog, als Dieb nicht zu Unrecht verschrieen12.

Nein, hätten Hoffmeister und Krása im Prag von 1938 ungeachtet ihrer Vorfahren auf den Zug des Antisemitismus aufspringen wollen, hätten sie das Objekt der Denunziation auch benannt. Dass es nicht geschieht, schließt eine hinter dem Stück stehende antisemitische Absicht weitgehend aus.

Wie konnte dessen gefährliche Tendenz dann aber entstehen, wie konnte es kommen, dass ihre den Antisemitismus der Zeit offensichtlich bedienende Botschaft so latent bleibt, dass man sich über sie hinwegtäuschen konnte und bis heute kann? In einem sehr aufschlussreichen autobiographischen Rückblick des Komponisten heißt es:

    Das schwierigste Problem beim Plan dieser Kinderoper war selbstverständlich das Libretto. Denn die üblichen dramatischen Konflikte, wie erotische, politische und solche materieller Art, mußten natürlich entfallen. Märchenstoffe lagen weder dem Textdichter noch mir vor. Trotzdem gelang es dem Autor, ein Buch zu schreiben, das kindlich heiter ist und einen Vorgang aus dem realen Leben bringt, indem unaufdringlich dargestellt wird, daß man gegen das Böse zusammenhalten muß. Im Falle der Kinderoper ist es ein Sängerkrieg zwischen allen Kindern und dem Leierkastenmann.13

Harmloser kann eine Schreibintention nicht daherkommen - und doch sind in diesen Sätzen alle Wurzeln eines Übels zu erkennen:

Man wollte, vernehmen wir, nichts Märchenhaftes, sondern "aus dem realen Leben" greifen, den Kindern zuliebe freilich auf ernsthafte Kritik der Verhältnisse und auf eine politische Perspektive verzichten. Nun haben wir aber verfolgt, wie das schwache Handlungsmotiv vom fehlenden Milchgeld durch konservative Kulturkritik derart aufgeladen wird, dass die gesellschaftliche Wirklichkeit (der Erwachsenen) als verkommen und erneuerungsbedürftig (durch die Kinder) erscheint. Wenn ihre Reformierung - Erlösung von den Übeln der Moderne - nun nicht auf politische Weise geschehen darf, sondern durch einen Aufstand aus rebellisch-wilder Natur, aus dem Kinder- und Volkstümlichen, und durch "Krieg" gegen eine gesellschaftliche Randexistenz, dann reproduzieren sich genauestens die völkischen, die faschistischen, die antisemitischen Muster der Zeit, die sich ja ebenfalls dem Kranken an der Moderne, dem Verzicht auf Politik, dem Rückzug aufs kollektive "Empfinden", der Konfliktverschiebung auf Außenseiter (zusammengefasst im "Weltjudentum" als dem Bösen selbst und letztem Verursacher aller Übel) verdanken.

Nein, die latente, aber durchschlagende faschistische und antisemitische Tendenz der Kinderoper "Brundibár" war nicht Plan, sie ist Produkt eines Misslingens. Krása und Hoffmeister scheinen zu jenen konservativen Rebellen, jenen politischen Romantikern gehört zu haben, die an den Entfremdungssymptomen der modernen Gesellschaft litten, ohne ihnen anderes als Fluchtbewegungen entgegensetzen zu können: zurück zur ungezähmten Natur, zur völkischen Gemeinschaft, zu naiver Kunst. Beim Projekt "Kinderoper" "passierte" ihnen dann ungewollt eine waffenfähige Mischung: realistischer Ansatz, Zivilisationskritik, Regression in atavistische Denkmuster, Austreibungsritual an einem Stigmatisierten: Faschismus und Antisemitismus aus dem Reagenzglas, Ungeheuer aus dem Schlaf der Vernunft.

Wie nahe sie damit ungewollt den schlimmen zeitgenössischen Realitäten kamen, erhellt aus dem Umstand, dass in Prag nur ein Jahr später einer wie Brundibár wie alles fahrende Volk zur Klientel von Hitlers "Rassehygiene" gehören würde. Speziell von den Drehorgelspielern lohnt zu wissen, dass sie auch vorher schon im Blickfeld des machthabenden Faschismus waren: seit 1920 versuchte Mussolini sie in die Heimat zurückzubekommen, da sie angeblich das Ansehen Italiens schädigten: Vertreibung, "ethnische Säuberung" mit umgekehrtem Vorzeichen.

***

Kein Vorwurf ist gegen die zu erheben, die bei ihrer Deportation die Oper mit nach Theresienstadt nahmen. Die aus heutiger Sicht verheerende Botschaft des Werkes mag es gerade gewesen sein, die es14 für die deutsche bzw. mit den Deutschen kooperierende Lagerleitung akzeptabel, bei der Propaganda, die es weidlich ausschlachtete (beim Besuch des Internationalen Roten Kreuzes, in dem Film "Der Führer schenkt den Juden eine Stadt"), so beliebt machte - entscheidend aber musste sein, dass die Kinder überhaupt etwas Eigenes zu singen und zu spielen hatten.

Überdies: diese Kinder waren selbst Entwurzelte, lebten in der Fremde und in Angst vor dem Tod. In solcher Situation neigen die Menschen weniger dazu sich dieser entgegenzustellen als zu einem Verhalten, das die Psychoanalyse "Identifikation mit dem Aggressor" nennt.

Elias Canetti hat in "Masse und Macht" vom Verhalten der "Meute" gesprochen, das Menschen gerade dann anzunehmen geneigt seien, wenn sie selber von Todesangst getrieben sind. Dies mag die kathartische Wirkung von "Brundibár" in Theresienstadt gewesen sein: in Spiel und rezipierender Phantasie ein Bedürfnis ausagieren zu können, das man nur zu gut verstehen kann und das den aufführenden und den zuschauenden Kindern keiner missgönnen wird: selber einmal zu den Starken zu gehören, die einen Schwachen verfolgen dürfen15 .

Ganz anders ist das mit Bezug auf deutsche Kinder heute zu sehen. Auch sie begegnen in "Brundibár" etwas Bekanntem: aber anders als die kindlichen Nazi-Opfer einem Vorbild zur Ausübung eigener Kollektiv-Macht an stigmatisierten Außenseitern, Schwachen, Fremden.

Was hilft es da, wenn ihnen mit Berufung auf Zeitzeugen erklärt wird, die Kinder in Theresienstadt hätten in Brundibár "den Faschismus" oder Hitler persönlich gesehen16? Es liefert zum faschismus- und antisemitismusträchtigen Meute-Verhalten, das damit der Kritik entzogen wird, die stärkste Verbrämung, die auf dem Meinungsmarkt nur zu haben ist: wenn es gegen den schlimmsten Bösewicht aller Zeiten geht, ist da nicht jedes Mittel geheiligt?

Geheiligt wird aber auch die positive Erfahrung: dass man es mit allem aufnehmen kann, wenn man sich gegen einen Feind, gegen den gefundenen Bösen, zu emotionsstarker Gemeinschaft zusammenschließt: hilfoser, weil um die Instrumente des Wissens und der Kritik gebrachter Antifaschismus, der die Züge seines Widerparts angenommen hat. Wie heißt es im berühmten Schlusschor, wo die letzten Verse der Oper das Recht ansprechen, in dem Brundibár tatsächlich war und das mit Füßen getreten wurde? [Hervorhebungen von mir]:

    Freundschaft alle Zeit,
    hilft euch in jedem Streit
    und schafft Gerechtigkeit.17

Die Einigkeit einer Meute erzeugt neues Recht: das wäre die kritische Übersetzung. Was ist da, streng genommen, anders als beim Recht setzenden und willkürliche Gewalt, auch Kindergewalt gegen Juden, legitimierenden "gesunden Volksempfinden"?

***

Nicht weniger problematisch ist das lancierte Geschichtsbild:

Wenn wir heutigen Deutsche Brundibár zur Verkörperung des Nationalsozialismus erklären, legen wir dann den Kindern, die sich nachspielend und nachphantasierend mit Aninka und Pepicek, gleichzeitig aber mit den Kindern von Theresienstadt identifizieren, nicht nahe, dass sie die Nachfahren von Opfern sind und einem Volk angehören, das einem Bösen anheimfiel, das eigentlich nicht zu ihm gehörte und exorziert werden konnte? Hitler ein Brundibár: das Unheil, das nicht in unsern Vorfahren selber lauerte, vielleicht in uns allen noch lauert, sondern das aus der Kälte der modernen Welt, aus der Fremde und aus dem sozialen Abseits über uns hereinbrach?

Nein, statt auf die Bühne, wo sie Kinder zur Identifikation einlädt, gehört diese Oper ins Museum, wo man sie mit Abstand betrachten, im historischen Kontext würdigen, aber auch kritisch befragen kann.

Mit viel Gefühl, aber unkritisch aufgeführt und prunkend umrahmt, fügt sie sich indessen zu einem Zeitgeist, der sich durch neue Formen der Vergangenheitsentsorgung ebenso auszeichnet wie durch den neoliberalen Rückgriff auf Konsensgesellschaft und Abschied vom kritischen Diskurs.

Nach jener Aufführung in der größten und ehrwürdigsten Kirche einer deutschen Großstadt, von der eingangs erzählt wurde, wurde dies in verblüffender Weise unter Beweis gestellt. Auf den erschütterten Zuschauer, der im Lauf seiner Studien Gedanken wie die hier ausgeführten teilen wollte, wurde quer durch die Institutionen, zuvörderst aber auf einem Feld, das einst von den deklarierten Aufklärern der 1968er Jahre bestellt wurde, zu einer Hetzjagd geblasen, die aller guten Geister des demokratischen Rechtsstaates spottete. Doch dies, "Brundibár 2002", ist eine andere Geschichte.


Stichworte zu Anmerkungen:

1 Milan Kuna, Musik an der Grenze des Lebens. Zweitausendeins 21998

2 Hinweis Selbst- und Orgelanpreisung: Zar, großer Mann!

3 "Hummel" statt Biene

4 Stelle von der Verjagung des bösen Diktators, "der Welt ein Beispiel"

5 Mützendiebstahl

6 Aninkas abendliche Angst, für die es keinen rechten Grund gibt

7 s. o.: "bindet" zunächst das Passanteninteresse, so dass die Kinder mit ihren Liedern nicht zum Zuge kommen, stört später erfolglos den Massengesang

8 Brundibár = 'Hummel' (? noch klären!!)

9 Hund: "Spür' ich einen Hasen auf, / folg' ich niemals seinem Lauf. / Ich allein krieg' keinen Hasen klein. / Hol' ich Freunde mir dazu,/ hat der Hase keine Ruh, / eine Meute ist des Hasen Pein!"

10 "Hört ihr den Glockenschlag? / Heut ist ein großer Tag! / Freuen uns alle drauf, / ja, mit Brundibár / nehmen wir's auf!"

11 * In meiner skandalauslösenden "Streitschrift" (links unter "Brundibár 2002 anklicken!) bin ich an dieser Stelle noch einer - leider! - bezeichnenden Verwechslung erlegen: Schievelbeiners mit dem wirklichen Bösewicht, der die jungen Hunde ertränken wollte, Kaspar Schlich ("Doch, obschon die Pfeife glüht, Oh, wie kalt ist sein Gemüth." - "Wenn mir aber was nicht lieb, Weg damit ist mein Prinzip.") - eindeutig "Christ" und nicht "Jude"! Bei genauerem Hinsehen erweist hier nicht Busch selbst sich als antisemitisch, sondern die Gesellschaft seiner Zeit, in der Hunde auf Juden scharf gemacht wurden: hier offensichtlich von zwei ungezogenen Bengeln. In "Brundibár" ist der Hund von sich aus scharf auf den unglückseligen Titelhelden (und andere seines Schlages?)!

12 Dass Brundibár schließlich zum Stehlen gebracht wird, erinnert ebenso daran wie das "nachäffende" Getanze, das Aninka und Pepicek zu Beginn der Begegnung erfolglos aufführen. Andere Drehorgelspieler waren Versehrte des Ersten Weltkriegs, denen der Staat das Instrument als soziale Fürsorge hatte zukommen lassen - auch hierauf kann man eine Anspielung erkennen, und zwar, wenn im tschechischen Urtext die Kinder den Brundibár als "Musiker ohne Beine" verhöhnen.

13 Kuna S. 207

14 im Unterschied zu einem in jeder Hinsicht anspruchsvolleren, totalitarismuskritischen Parallelwerk, Ullmanns und Kiens "König von Atlantis", das keine Chance bekam, sondern sofortige tödliche Sanktionen auslöste: recherchieren.

15 Bei Peter Weiss, dem zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal bewusst ist, dass man ihn zum Juden stempeln wird, lesen wir von seinen Pfadfindererfahrungen (Hervorhebungen von mir):

    und in der Verwirklichung meiner alten Kriegsspiele nahm ich teil am Überfall auf das Feldlager einer feindlichen Gruppe. [...] Nah vor mir sehe ich noch das aufgescheuchte Gesicht eines Jungen, dem ich trotz seines Flehens einen geschnitzten Stab aus den Händen winde, besessen vom Siegestaumel jage ich mit meiner Beute davon. Wie eine Mahnung stieg dieses weinende, angstverzerrte Gesicht vor mir auf, irgendwo fühlte ich, daß ich Gewalt an mir selbst beging, doch ich erfaßte es nicht, ich war von einem saugenden Wirbel ergriffen. [...] Alle Zerstörungslust und Herrschsucht in uns durfte sich entfalten. [...] Ich war dabei, als man einen Schwachen zum Ofen schleppte und ihn zwang das heiße Eisen zu küssen, ich war dabei, als man einen Gefangenen auf einem Floß in ein überschwemmtes Grundstück hinausstieß und ihn mit Lehmklumpen bewarf, ich war von kurzem Glück erfüllt, daß ich zu den Starken gehören durfte, obgleich ich wußte, daß ich zu den Schwachen gehörte.
Noch deutlicher Louis Begley, der als polnisch-jüdisches Kind eine Theresienstadt vergleichbare Erfahrung machen musste, in "Lügen in Zeiten des Krieges":

Der Kampf gegen die Wanzen bewirkte eine vorübergehende Besserung unserer Lage, hatte für mich aber noch einen zusätzlichen Reiz [...]: Ich sah ihn als ein Kriegsspiel, in dem ich wenigstens in begrenztem Rahmen Jäger und Aggressor sein konnte; ich war wie die SS, die in den Wäldern die Partisanen oder sehr bald auch im Warschauer Ghetto rebellische Juden vernichtete. (S. 107)

16 Den Opfern damals, die solches berichten, sei dies in ihrer Situation nicht bestritten - obwohl man hier auch Legendenbildung vermuten darf.

17 So heißt es freilich nur in der deutschen Version, die sehr frei übersetzt, den „Geist" des Originals aber erfasst und manchmal expliziter macht als dieses selbst - anders als die „republikanisierende" englische Version, die z. B. ein „who wants the tyrant's end" hinzuerfindet. Die an sich sehr interessanten Übersetzungs- und textkritischen Fragen habe ich aus dieser Kurzfassung herausgenommen - sie können in einer fachwissenschaftlichen Version erscheinen. Vgl aber demnächst (ca. Mai/Juni 2003) "Inhalt textkritisch" (links oben anklicken!